Montag, 29. Juni 2009

Reinhard Mey - "Lilienthals Traum"



blattlausiii

Er weiss, dass seine Reise hier zu Ende gehen wird,
Auf diesem Feldbett, in diesem Waggon, er hat sich nie geirrt.

Der Arzt und Gustav fluestern und sie fluestern ueber ihn,
Nach Stoelln gekommen, um ihn heimzuholen nach Berlin.

Die Raeder haemmern auf die Gleise, Bilder ziehen schnell vorbei:
Die Mutter am Klavier, von ferne Schumanns "Traeumerei",
Das Elterhaus in Anklam, Schule, Misserfolg und Zwang,
Versteckt in Sommerwiesen mit gustav tagelang

Dem Flug der Stoerche nachzusehn´n auf schwerelosen Bahnen,
Ihr Aufstiegen, ihr Schweben zu begreifen und zu ahnen:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Lass den Wind von vorne we´n,
Breite die Fuegel, Du wirst seh´n:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Die ersten Flugversuche von den Doerflern ausgelacht.
Um den Spoettern zu entgeh´n, unternimmt er sie nur bei Nacht.

Eine neue Konstruktion, ein neues Flugexperiment,
Die Ziffern 4771, sein erstes Patent!

Agnes vor dem Haus im Garten, in dem langen, schwarzen Kleid,
Agnes voller Lebensfreude, Agnes voller Herzlichkeit.

Dann sonntags mit den Kindern ´raus zum Windmuehlenberg geh´n,
Die Welt im Fluge aus der Vogelperspektive seh´n,

Auf riesigen baumwollbespannten Weidenrutenschwingen,
Sommer 1891 und jetzt wird er es erzwingen!

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Lass den Wind von vorne we´n,
Breite die Fuegel, Du wirst seh´n:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Wie die Holme knarren, wie der Wind in den spanndraehten singt,
Wie der Fluegel ueberm Horizont sanft und adlergleich schwingt,

Wie das Auf und Ab der Luefte seine Flugmaschiene wiegt!
Seine Beine sind ganz taub, wie lange er wohl schon so liegt?

Der Doktor kommt aus Rhinow, und der sagt, ein hef´tger Schlag
Traf den dritten Halswirbel, was immer das bedeuten mag.

Was mag Agnes fuehl´n und was die Kinder, wenn sie es Erfahr´n?

Agnes war immer besorgt, nie ohne Angst in all den Jahr´n.

Man kann die Sehnsucht nicht erklaer´n, man muss sie Selbst erleben:
Drei Schritte in den Abgrund und das Gluecksgefuehl zu Schweben!

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Lass den Wind von vorne weh´n,
Breite die Fuegel, Du wirst seh´n:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Ein guter Wind aus Ost an diesem Sonntag im August,
Schon der erste Flug geht weit ins Tal hinunter, eine Lust!

Der zweite wird noch weiter geh´n.

Da reisst´s ihn steil empor,
Fast steht er still, wirft Beine und den Oberkoerper vor,

Der Wind schlaegt um, er bringt den Apparat nicht mehr zur Ruh´,
Und senkrecht stuerzt er aus dem Himmel auf die Erde zu.

Den Sturz kann er nicht mehr parier´n, unlenkbar sein Verlauf.
Mit einem Krachen schlaegt er mit dem rechten Fluegel auf.

War´s Leichtsinn?

War´s ein Unglueck?

War´s sein eigner Fehler eben?

Nie und nimmer wird er sich seinem Traum geschlagen geben!

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Lass den Wind von vorne we´n,
Breite die Fuegel, Du wirst seh´n:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Der Schlaf kommt wie ein guter Freund. Gut, dass er jetzt heimkehrt.

Ein erster Schritt zum Menschenflug. Gott weiss, er war es wert!

Den naechsten werden andre tun, der Mensch wird irgendwann
Die Welt umfliegen koennen, wenn er will, und dann

Wird er sich aus der Enge der Gefangenschaft befrei´n,
Mit allen Grenzen werden alle Kriege ueberwunden sein!

Er hoert die Kinderstimmen und er spuert, Agnes ist da
In dem dunklen Waggon. Jetzt ist er seinem Traum ganz nah:

Er sieht die Stoerche fliegen, sieht sich selbst in ihrem Reigen
Frei und schwerelos, durch eigne Kunst, ins sonnenlicht aufsteigen!

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

Lass den Wind von vorne we´n,
Breite die Fuegel, Du wirst seh´n:

Du kannst fliegen, ja, Du kannst!

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